Ich habe das Gefühl momentan ist die Welt so intensiv und schnell, dass unser Nervensystem manchmal kaum noch hinterher kommt.
Gerade hat man ein Thema gelöst, schon ist das nächste da, vielleicht nicht das eigene, aber eines was einen trotzdem betrifft und berührt als Mensch in dieser komplexen und herausfordernden Welt.
Und wer von uns hat schon immer die Zeit, wenn die Herausforderungen hoch sind, sich eine Auszeit zu nehmen für die eigene Regulation?
Kennst du das auch?
Besonders feinfühlige, sensitive Menschen nehmen vieles auf in ihrem Körper und Nervensystem, und oft merken sie es gar nicht.
Unser Körper trägt so viele Geschichten, eigene und übernommene, er ist sozusagen ein Speicher von Erfahrungen, Erinnerungen, persönlichem und kollektiven Trauma, Schock, Leid, Verlust und Schmerz. Dinge die sich ansammeln und sich irgenwann in neuem Gewand zeigen und unser Leben beeinflussen. Eckhard Tolle spricht auch vom sogenannten Schmerzkörper.
Das kann die Schulter sein, die schmerzt, der Rücken, Kopfschmerzen, Müdigkeit und Erschöpfung, Schlafstörungen, Burnout Symptomatik, Ängste, Zwänge, vielleicht ein schnelles explodieren und eine geringe Stresstoleranz, ein nicht mehr zu Ruhe kommen, getrieben sein.
Oder ein sich zurückziehen von sozialen Kontakten, schönen Dingen weil einfach keine Energie mehr da ist, und alles zuviel wird.
Unser intelligentes System ist darauf ausgerichtet uns zu regulieren, doch wenn das Toleranz Fenster dazu immer kleiner wird, kann es manchmal auch sehr ungesunde Wege einschlagen wie z.B Autoimmunerkrankungen. Oder wir entwickeln auf der Suche nach Lösungen Suchtverhalten, um all das gut „auszuhalten“ was eigentlich zuviel ist für die Seele, den Menschen. Wir haben inzwischen so viele gesellschaftlich „anerkannte“ VerSuche/Süchte im töglichen Leben und Konsumverhalten entwickelt, die im Übermass sicher nicht als gesunde Regulation funktionieren, seien es Alkohol, Medikamente, Drogen, Spielsüchte, Medienkonsum…
Und wir erleben: Das System gerät immer mehr in eine Dysbalance.
Und von alleine oder durch rein kognitive Begleitungen kommen wir vielleicht bis zu einem Punkt einigermassen klar, verstehen wir manches, doch in der Tiefe hält der Körper weiterhin an diesen automatischen Mustern fest und wir sind nicht geheilt.
Die Polyvagaltheorie von Stephen Porges
Hier setzt die von Stephen Porges entwickelte Polyvagaltheorie an, ein Konzept, das die Funktion des Vagusnervs und seine Auswirkungen auf unser Verhalten und unsere Gesundheit erklärt. Laut dieser Theorie reguliert der Vagusnerv unsere Reaktionen auf verschiedene Umweltreize und bestimmt, ob wir uns in einem Zustand von Sicherheit, Stress oder Überlebenskampf befinden.
Damit ist sie eine wichtige Bereicherung für die Arbeit und das Verständnis von Trauma geworden.
Der Vagusnerv, auch bekannt als zehnter Hirnnerv oder Nervus vagus, ist der längste Nerv im menschlichen Körper, er geht vom Kopf bis zum Darm. Er ist Teil des parasympathischen Nervensystems und spielt eine entscheidende Rolle bei der Regulation verschiedener lebenswichtiger Funktionen, einschließlich der Herzfrequenz, der Atmung, der Verdauung und der Entzündungsreaktionen.
Die Polyvagaltheorie bietet eine umfassende Erklärung für unser Verhalten und unsere Reaktionen auf Stress. Sie verdeutlicht, wie der Vagusnerv in verschiedenen Situationen aktiviert wird und unsere Reaktionen auf Bedrohungen oder Sicherheit beeinflusst.
Für die Arbeit mit Menschen ist dieses Verstehen sehr hilfreich, denn wir erkennen, es sind Automatische Reaktionen und Abläufe des Nervensystems die beginnen abzulaufen, wenn alte Themen durch Situationen im heutigen Leben getriggert werden.
Das heisst aber auch, wir sind dem was gerade in uns geschieht nicht hilflos ausgeliefert oder gar „schuld“, sondern wir können selbst etwas tun und unsere Reaktionen verändern.
Es ist ein ganz entscheidender und heilsamer Faktor für betroffene Menschen, aus dem eigenen Erleben Opfer zu sein in die Erfahrung Selbstwirksam sein zu können zu wechseln!
Zum Verdeutlichen ein Beispiel aus der Praxis:
Vor vielen Jahren hatte ich einen Unfall mit schweren Schleudertrauma und ich habe erlebt, dass niemand da war um zu helfen.
Diese Erfahrung ist immer noch in meinem Körper gespeichert, da ich es nie in der Tiefe aufgearbeitet habe.
Heute beim Arbeiten im Garten stolpere ich und falle hin. Ich bin allein zuhause.
Und prompt fährt mein Körper sämtliche alte Programme hoch, ich beginne zu zittern, alles tut weh, ich beginne zu weinen, fühle mich allein, mein Nacken versteift sich…
Doch: Diese Reaktion ist keine Reaktion auf das was mir heute passiert, sondern ein altes Programm meines Nervensystems auf eine frühere ungeheilte Erfahrung.
Und wenn ich das verstehe, kann ich viel schneller wieder aussteigen.
Ich kann zum Beispiel nachsehen ob ich mich gerade überhaupt verletzt habe, ich kann mich kurz selber beruhigen, streicheln, in den Arm nehmen, so wie ich das bei einem kleinen Kind was stürzt auch machen würde. Ich kann mir sagen das alles gut ist, das mir heute nichts schlimmes passiert ist, mich setzen, mich orientieren im Raum oder vielleicht auf die Erde legen. Oder ich kann bei der netten Nachbarin nebenan klingeln oder mit der Katze kuscheln um mein Nervensystem wieder zu regulieren. Gerade der Kontakt mit Tieren oder vertrauten (regulierten) Menschen ist eine wunderbare Möglichkeit unseren Vagusnerv schnell wieder einzuschwingen und zu regulieren.
Der Vagusnerv spielt eine wichtige Rolle bei der Regulation unserer Stressreaktionen. Wenn der ventrale Vagus aktiviert wird, hilft er dabei, die Stressreaktionen zu mildern und eine schnelle Erholung nach stressigen Ereignissen zu fördern. Menschen mit einer gut funktionierenden Vagusnerv-Aktivität neigen dazu, resilienter gegenüber Stress zu sein und schneller in einen Zustand der Entspannung zurückzukehren.
Atemübungen zur Vagusnerv-Stimulation
Bestimmte Atemübungen, wie zum Beispiel die Bauchatmung oder längeres Ausatmen, können – neben anderen Möglichkeiten – den Vagusnerv aktivieren und eine Entspannungsreaktion fördern. Durch bewusstes und langsames Atmen kann man den ventralen Vagus aktivieren und so Stress abbauen.
Allerdings reicht es nicht aus, diese Übungen nur einmal zu machen, am besten integriert man sie wie das tägliche Zähneputzen in seinen Alltag.
6 – 4 – 8
Eine einfache Übung um sein Nervensystem zu regulieren ist die folgende Atemübung:
Sie können Sie im Sitzen oder Stehen machen.
Bevor Sie beginnen, ist es wichtig sich erst einmal gut zu erden, Füsse auf den Boden.
Vielleicht stellen Sie sich vor, dass sie ein Baum sind, mit Wurzeln tief in die Erde, aufrecht stehend und nach oben aufgerichtet, verbunden mit dem Himmel.
Kommen Sie erstmal an, in sich, ihrem Körper und an dem Ort wo sie gerade sind.
Dann atmen Sie tief ein und zählen dabei langsam bis 6
Nun halten Sie ihren Atem an und zählen bis 4
Danach atmen Sie tief und lange mit leicht geöffnetem Mund aus und zählen dabei bis 8
Wiederholen Sie diesen Atemrhythmus einige Male, mindestens 3 mal
Sie werden merken, wie sich ihr System beruhigt und Sie präsenter sind.
Bei hohem Stress und Überreaktion hilft es auch, wenn man beim Einatmen die Hände fest auf den Oberbauch legt und die Einatmung dadurch etwas erschwert.
Probieren Sie es aus. Vielleicht beginnen Sie erstmal mit nur wenigen Runden, und dafür mehrmals am Tag. Das können Sie leicht am Morgen oder Abend einbauen, oder auch in der Mittagspause im Park oder sogar auf der Toilette im Büro.
Und bleiben Sie dran, ein paar Atemzüge regelmässig regulieren ihren Vagusnerv wunderbar.
Und wenn Sie ein Thema haben bei dem Sie Unterstützung annehmen möchten, begleite ich Sie dabei gerne traumasensibel und behutsam.
Melde dich gerne bei mir hier: